Von Ratten und Menschen

Der alte Nachbar wurde debil, langsam und schleichend.

Sein merkwürdig schleudernder Gang, verursacht durch einen alten, schlecht verheilten Beckenbruch, verstärkte sich. Er vergaß zu trinken, schließlich auch zu essen und legte sich plötzlich am hellen Mittag zur Nachtruhe. Der Unrat in seinem Hause häufte sich.

 

Der soziale Dienst, der ihn versorgen sollte, kam nur sporadisch und höchst ungenügend seinen Verpflichtungen nach. Eigensinniger wurde der alte Klaus. Abends – nach dem Dienst – entschlossen, ihn wenigstens mit dem Notdürftigsten zu versorgen, weckte ich ihn mit der Hoffnung, ihn wenigsten zum Essen und Trinken bewegen zu können. Doch er öffnete immer seltener die Tür und als auch seine eigene Schwester nichts mehr ausrichten konnte, wurde die Unterbringung in einem Heim beschlossen – die behördlichen Prälimarien zu diesem Unterfangen zogen sich endlos hin. Ratten usurpierten das im Müll erstickende Haus und infiltrierten schließlich die Nachbarschaft.

 

Als sie schließlich durch die Hundeklappe in der Seiteneingangstür meines Hauses einen Weg zu Keller und Küche gefunden hatten, ich nächtens, durch mehr oder weniger leises Geknusper und Geknispere geweckt, das eine oder andere kleine Nagetier fröhlich und unverschämt auf dem Küchen-Sideboard hopsen sah, entschloss ich mich schweren Herzens zum Kauf von Fallen – Lebendfallen natürlich, in verschiedenen Größen; denn bekanntlicherweise schicken die Ratten erst ihre "Minis" los, um das Terrain zu sondieren. Einen Sommer lang – bis in den späten Herbst, versuchte ich tapfer der Rattenplage mit Hilfe der gut bestückten Fallen und äußerst zwiespältigen Gefühlen Herr zu werden. Sie waren doch so possierlich mit ihren Hamster-ähnlichen Gesichtern und dem eindeutigen Versuch einer Kontaktaufnahme, wenn sie in einem meiner Käfige gelandet waren (!) – aber, bitte ohne Asyl in meinem Haus(!!). Nacht für Nacht – meistens in den frühen Morgenstunden – etwa gegen 3 h – klappten mit lautem Knall die Fallentüren zu. Die nächtliche Wanderung zum Waldrand oder (pst – ich sag‘ s nur hinter vorgehaltener Hand) zum näher gelegenen Maisfeld gestaltete sich fast zum Ritual – die gefangene Ratte wurde wieder frei gelassen (nicht ohne Mitgabe einiger Brotkrumen als erste Wegzehrung).

Im Spätherbst fand sich der Heimplatz für den alten Nachbarn – das Haus wurde entrümpelt, vorbei war es mit den fetten Pfründen der Ratten, immer seltener klappte die Fallentüre und... da war es wieder dieses zwiespältige Gefühl zwischen "Gottseidank" und der undefinierbaren Ahnung eines Verlustes (werde ich deshalb heute noch manches Mal nachts um 3 h wach?).

Der Sommer des nächsten Jahres brachte mir die Bekanntschaft von Susi.

 

Susi – eine junge Wanderratte – die im Holzstoß einer Nachbarin Wohnung bezogen hatte, versuchte pünktlich jeden Mittag in mein Haus zu gelangen, wennD ich – im Müßiggang (frisch operierte Hände ließen nichts Anderes zu) die Sonne genießend – niedergelassen auf den Treppenstufen – die Natur meines kleinen Gartens beobachtete. Forsch bewegte sie sich jedes Mal auf mich zu bis ich sie, mit dem Finger auf sie deutend, mit den Worten "Susi, geh – das ist mein Haus" davonscheuchte. Mit sehr gemächlichen Bewegungen drehte sich sich dann, um  jedoch plötzlich und blitzschnell im Holzstoß zu verschwinden.

Der Sommer ging, längst hatte ich meine Arbeit wieder aufnehmen können – es gab keine Pausen in der Mittagssonne mehr, der Oktober brachte Nässe und kühle Nächte.

Die frühesten Morgenstunden eines Sonntags hatten mir Migräne beschert, ich saß im abgedunkelten Wohnzimmer und versuchte mit zusätzlichen Hausmitteln wie "heißer Lappen ins Genick, kalter auf die Stirn" diesem äußerst lästigen und unangenehmen Übel Herr zu werden. Plötzlich – mir erstarrte fast das Blut in den Adern – war ein Zischen und Knurren im Raum zu vernehmen. Die Augen weit aufgerissen beobachtete ich im Restlicht den diffusen Schatten eines Tieres, der sich an der Wand entlang bewegte – eine Ratte – riesig, bestimmt zwischen 45 und 50 cm groß. Der anfängliche Schrecken war schnell überwunden: "Susi", sprach ich sie an. Knurren und Zischen als Antwort, während sie durch meinen gemauerten Brunnen huschte. "Susi, das ist mein Haus – geh!" Knurren und Zischen – mir sträubten sich die Nackenhaare; denn -  wie dreist, nun lief sie auf der Lehne der Couch hinter meinem Kopf entlang. Nun wurde es mir zu bunt – mit dem Zeigefinger auf sie zeigend, zur vollen Körpergröße hoch aufgerichtet, brach mein ganzer Zorn heraus und zwischen zusammengepressten Zähnen gelang mir ein Zischen, dem der Ratte ähnlich: "Hau ab, Susi, das ist mein Haus!". Ich trieb sie vor mir her – sie verschwand unter den zugezogenen Gardinen des Wintergartens. Natürlich – dieses eine Fenster, durch den gekippten "Aussteller" halb geöffnet, hatte ihr Einlass geboten. Dass sie diese Möglichkeit vom Boden aus in einer Höhe von 2 m erkannt hatte, zeugte von einer sprichwörtlichen Klugheit! Aber, bei aller Bewunderung, mit dem Gedanken, alltäglich den Fernsehabend mit einer Ratte auf der Couch zu verbringen, konnte ich mich nicht anfreunden. Von einer Mär über eine als Ratte verzauberte Prinzessin (oder einen Prinzen) hatte ich keine Kenntnis – dergestalt reichen die diversen Zauberkräfte anscheinend nur zur Verwandlung in Frösche. ..

 

Doch es gab Abhilfe in Art einer gut mit Schokokeksen, Schinken und Käse bestückten Wieselfalle: Susi machte sich in der Dämmerung auf den Weg, die Falle umschleichend, sondierte sie das Terrain – leise knurrend. "Hmm, hmmmm – 2 Fallentüren, da kann ich immer noch aus einer heraus, wenn eine Tür zuschlägt", diese "Denkblase" war förmlich zu sehen! Der Duft der Leckereien – die Gier danach war stärker - Susi betrat den großen Käfig und... beide Türen schlugen zu!

 

Die Moral von der Geschicht‘: Glaube nie, dass du dir ein Türchen offen halten kannst, manches Mal sitzt du dann schon längst in der Falle.

EPILOG: 

 

"Wo hast Du sie hingebracht", fragte ich meinen Mann, nachdem er Susi "ausgewildert" hatte. "Zum McDonalds, dort findet sie wenigsten gleich  was zu fressen!"